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Ji-Hyun Bae

Buch-und Kunstkabinett Konrad Mönter, Meerbusch-Osterath
11.1.2013

Von Weltkugeln und Glückswürfeln - ein Besuch im Atelier von Ji-Hyun Bae

Vorne im Haus beschäftigt man sich mit der Aufmerksamkeit heischenden Fassade der Dinge, lehrt in einer Design-Schule, wie man sie lecker macht für das Begehren. Ich aber führe mein Fahrrad von der Geschäftigkeit der Straße weg auf den stillen Hof zum Atelier von Ji-Hyun Bae. Ich habe bei unserem ersten kurzen Kennenlernen in ihrer Wohnung nicht gut aufgepasst und suche nun vergeblich ihren Namen auf den Klingelschildern der Ateliers, die oben im Hinterhaus untergebracht sind. Nein, kein Atelier oben, erfüllt von Tageslicht, wo das Sehen wichtig ist. Unter die Erde muss ich, in den Keller, wo man gemeinhin Vergangenes lagert und für das Zukünftige Vorräte bereithält.

Auf den oberen Stufen des Kellerabganges steht freundlich lächelnd die koreanische Künstlerin, die es schon kennt, dass man sie nicht unter der Erde vermutet. Wir gehen die steile Treppe hinab, zwischen Wänden mit Spuren mehrfacher Veränderungen und grober Versuche, diese durch allerlei Putz, Spachtelmasse und Farbe zu tilgen. Ich passiere eine enge Öffnung mit einem hochgefahrenen Metallrollladen und stehe schließlich vor einer stählernen, schwergängigen, rostigen Tür mit vielen Übermalungen. Kurz fühle ich mich an die düsteren Arbeiten von Gregor Schneider erinnert, muss dann aber lächeln, als ich eintrete. Denn drinnen erwartet mich das Gegenteil. Es ist hell und warm hier, voller fragiler, empfindsam gefertigter Gebilde, die in ihrer Schlichtheit ohne jede Attitüde daherkommen, spielerische Leichtigkeit ausstrahlen und schnell vergessen lassen, wo wir uns befinden.

Ich bin umgeben von Arbeiten, die für unser Gespräch den Atelierraum bevölkern. Ohne materielle Schwere stehen sie auf Sockeln, lagern auf Tischen und hängen von der Decke, regen mit ihrer prägnanten Form unser Denken an. Der hellockerfarbene Ton von Nesselstoff, aus dem viele von ihnen gefertigt sind, ist mir schon von den Fotografien vertraut, die mir Ji-Hyun Bae bei unserem ersten Gespräch gezeigt hat. Wohltuend abstrakt oder neutral wirkt er hier, wie unbeschriebenes Papier, wie Kunstmaterial, nicht wie solches von oder für Kleidung. Und wie man auf Papier seine Gedanken mit einem Stift, einer Feder oder einem Pinsel flüchtig und skizzenhaft niederschreibt, so sind in den Nesselstoff mit einem Faden zeichnend Gedankenstickereien eingewoben, manchmal die ganze Welt.

Die Kunst von Ji-Hyun Bae ist eine gedankliche, metaphorische, bildnerisch begriffliche, hat also weniger mit Sehen zu tun, befasst sich vielmehr mit Wahrnehmen in einem vom Sehen unabhängigen Sinn. Und so stehen zwischen uns schon nach kurzem Gespräch keine detaillierten Umschreibungen bildnerischen Ausdrucks, sondern klare Begriffe im Raum, die für das deutsche Ohr ein wenig schwergewichtig empfunden werden können, in der Sprache der koreanischen Künstlerin aber eine selbstverständliche Leichtigkeit annehmen. WILLE gehört auf der einen Seite dazu, aber auch ZIEL, und HOFFNUNG. Diesem Komplex gegenüber stehen SCHICKSAL, ZUFALL und REALITÄT. Zwischen beiden Sphären, so schildert Ji-Hyun Bae ihre Lebenserfahrung, bewege sich das Leben. „Nicht alles ist erreichbar“, fügt sie hinzu. „Das muss man schon früh erfahren. Trotz allem Bemühens, auch wenn man mit großem Willen und Ausdauer ein Ziel verfolgt.“ Wer aber das Schicksal ignoriert, denke ich weiter, wer die Begrenztheit des eigenen Wollens und Könnens nicht zu akzeptieren vermag, der muss letztendlich scheitern.

„Nach dem Abschluss meines Studiums der Malerei in Seoul suchte ich nach neuen Anregungen und Herausforderungen, wollte mich künstlerisch weiterentwickeln“, fährt sie fort. „Ein asiatisches Land wie Japan oder China kam dafür nicht in Frage, denn asiatische Malereitradition war mir längst vertraut. Der amerikanische Einfluss in Seoul war so intensiv, dass es mich auch dahin nicht zog. Also musste es Europa sein, wobei mir Deutschland und dabei die Akademie in Düsseldorf am interessantesten erschien, denn ich kannte neueste deutsche Malerei durch Ausstellungen in Seoul. So kam ich 1989 hier an und konnte schon bald Schülerin von A. R. Penck werden. Leicht hat er es mir nicht gemacht, konfrontierte mich immer wieder mit seiner Auffassung, dass ich Erfahrungen mit anderen künstlerischen Disziplinen als der Malerei suchen sollte. Ich schob seinen Rat nicht von mir, dachte viel darüber nach. Was mich schließlich dazu brachte, mich mit Objekten zu beschäftigen. In einer Hinsicht mag er Recht gehabt haben: das Malen mit Ölfarbe habe ich selten gerne gemacht. Und Farbigkeit“, so fährt sie fort, „soll für mich auch eher zurückhaltend und gedämpft sein. Alles Schwere, Grobe und Dunkle ist mir fremd. Wässriges dagegen inspiriert mich, das zeichnende Malen mit Tuschen und Acrylfarbe.“

Im Weiteren sprechen wir über den Titel, den Ji-Hyun Bae der Ausstellung gegeben hat: „Spieglein, Spieglein …“. „Er bezieht sich“, erläutert sie mir, „auf eine Serie von Arbeiten, die von dem Märchen „Scheewittchen“ angeregt wurden und dem Thema SCHICKSAL nachspüren. Bei den Gebrüdern Grimm ist es die absolute Schönheit, die das Selbstbild der Königin bestimmt, das ihr bei der Betrachtung im Spiegel gegenübertritt. Für mich ist die Schönheit im Märchen eine Metapher für jegliche Ziele, die wir uns im Leben setzen, für das, was wir von uns und für uns im Leben erwarten. In der Selbstreflexion prüfen wir, welche Fähigkeiten wir zum Erreichen dieser Ziele benötigen und ob wir diese besitzen.“

Bei dem ersten Werk aus der Reihe „Spieglein, Spieglein …“, das wir betrachten, ruht eine Weltkugel mit einem rosa schimmernden Kern und mit Erdteilen aus weißer Acrylfarbe auf einer zusammengefalteten Decke. In einem übertragenen Sinn ist sie in dieser Form nicht nutzbar, erklärt mir die Künstlerin. Das sie verkörpernde Schicksal ist nicht zu ändern. Dass eine den menschlichen Willen symbolisierende Weltkugel auf der Decke ruht, mag daran denken lassen, wie sehr das Schicksal unsere Willensentscheidungen begrenzt.

Das zweite Werk mit dem Titel „Spieglein, Spieglein“ hängt von der Decke. Es ist ein schlichtes, ärmelloses, mädchenhaftes Nesselkleid. Wagt man von unten einen Blick ins Innere, also ins Intime des gebauschten Rockes, so entdeckt man an dessen konkav gewölbter Innenseite eine Weltkarte. Verblüffend intensiv finde ich diese Verbindung, dort, wo man das Privateste vermutet, die ganze Welt, etwas überaus Universales, zu finden. „Jeder Mensch hat eigene Träume, Ziele, Willenskräfte“, erläutert mir Ji-Hyun Bae ihre Idee. „Ahnen kann man sie als Gegenüber vielleicht. Manchmal glaubt man auch, von Handlungen auf sie schließen zu können. Und doch bleiben sie uns weitestgehend verborgen. Nur die Trägerin des Kleides kennt sie genau. Dies habe ich durch die Landkarte auf der Innenseite des Rockes bildlich formulieren wollen. Sehr bedeutend für mich ist auch der Spiegel, der auf dem Boden unter dem Rock liegt und uns einen Blick auf die Weltkarte erlaubt, womit wir Anteil nehmen an einer Art Selbstbefragung.“

Zwischen beiden Arbeiten, die „Schneewittchen“ thematisieren, hängt ein weiteres zweiteiliges Werk von der Decke. Links ein traditionelles koreanisches Reisegepäck, ein würfelförmiger Gegenstand, der in ein Tuch eingeschlagen und oben verknotet ist. Rechts daneben, in dialogischer Gegenüberstellung, eine Weltkugel. „Reise“ nennt Ji-Hyun Bae diese Arbeit. „Sich auf die Reise zu begeben, in die Welt hinauszuziehen, ist abenteuerlich“, sagt sie. „Man verlässt und verliert dabei das Vertraute, kann aber Neues hinzugewinnen und sein Leben bereichern.“

Bei der Betrachtung weiterer Arbeiten begegnen uns immer wieder Kleidungsstücke. „Klamotten“ – interessanter Weise benutzt Ji-Hyun Bae diesen umgangssprachlichen Begriff – sind für sie ein Symbol für das Leben. Ich denke, besonders für das Leben des Menschen als soziales Wesen. Sie unterstreichen und vermitteln sein Geschlecht, seine Einstellungen, seinen Stand, seinen Beruf, seine Tätigkeiten. Sie werben, sie informieren, sie fordern Respekt. Die Künstlerin erzählt, dass man in Korea bei jedem Kind auf der Straße anhand der von ihm getragenen Uniform sofort erkennen kann, in welche Schule es geht.

Von den weichen Arbeiten aus Stoff, die sich mit dem Motiv des Kleides befassen, wenden wir uns zwei würfelförmigen Hohlkörpern aus dünnem Sperrholz zu. Schon zu Beginn unseres Gespräches kamen wir auf die Macht des Zufalls zu sprechen, der selbst bei klügster Gewandtheit der Beteiligten den Verlauf von Spielen bestimmt und für die unerbittliche Seite des Schicksals steht, das sich ohne Anlass und Ziel dem menschlichen Willen in den Weg stellt, über Glück oder Pech entscheidet. Einer der Objekte ähnelt einem Spielwürfel, zeigt an seinen sechs Außenflächen die gewohnten Zahlenbilder aus kleinen kreisförmigen Öffnungen. In die Flächen des daneben stehenden Objekts dagegen sind eins bis sechs Silhouetten von Kleidungsstücken und Utensilien aus unterschiedlichen Lebenssituationen hineingeschnitten, von Arbeitskleidung, Anziehsachen fürs Eislaufen im Winter, Reisegarderobe mit Koffer usw.. Wo wir sind, wohin wir reisen, unterliegt auch dem Schicksal.

Zum Thema Spiel zeigt mir Ji-Hyun Bae noch eine weitere Arbeit, die sich an Domino-Steinen orientiert. In vergrößerter Form stehen drei mit Stoff bezogene und mit Punkten bemalte hölzerne Dominoformen nebeneinander. Jede Zahl von eins bis sechs ist einmal in der gesamten Anordnung verwendet, wobei die Summe der Punkte jedes Steines bei allen die Zahl sieben ergibt: eins und sechs, drei und vier, fünf und zwei. „Für mich ist dies ein Bild von Solidarität“, erklärt sie mir. „Denken Sie nur daran, wenn man sie hintereinander aufstellt und den ersten Stein umstößt, welch beeindruckende Kettenreaktion man auslöst: Wenn einer fällt, fallen alle!“

Am Ende betrachten wir noch eine Arbeit, bei der das Bett als Motiv im Zentrum steht. „Das Bett ist für mich ein wichtiges Bild“, erläutert Ji-Hyun Bae. „Es ist eine Metapher für den Schlaf, den Zugang von der Alltagsrealität mit ihren Bedingungen zu einer anderen Welt. Der Titel „Zwischen den Welten“ erscheint mir dies am besten zu beschreiben.“

Wir sprechen noch über dies und das, Kindererziehung, Protestantismus, sogar über künstlerischen Unterricht. Meine Stichworte füllen mehrere Seiten und reichen für eine kurzweilige Heimfahrt auf dem Fahrrad. Ich verabschiede mich und denke, dass ich genügend Stoff für anregende Gespräche mitnehme, die ich Ihnen im Folgenden wünsche. Für Ihre Aufmerksamkeit jedenfalls danke ich Ihnen herzlich und wünsche Ihnen noch einen schönen Abend im Buch- und Kunstkabinett von Konrad Mönter.

Irmel Droese

Gemeinhin, meine sehr verehrten Damen und Herren, werden Menschen wie ich oder Reden, wie Sie sie nun von mir erwarten, mit den Worten angekündigt, dass etwas zu den ausgestellten Werken erläutert würde. Manchmal heißt es auch, dass der Redner im Folgenden das Werk der Künstlerin erklären wolle. Dabei zucke ich immer zusammen. Denn meine eigene Erfahrung ist, dass sich das Werk hinter jeder sogenannten Erklärung wieder verschließt und dass ich mich damit sehr schwer tue, etwas klarer machen zu wollen, was ein anderer bildnerisch formuliert hat.

Denn kaum hat man sich durch ein Werk durchgefressen, sich mit Anstrengung durchgemüht, da schließt sich der Durchgang wieder. Und wieder steht das Werk da, verschlossen für Erklärungen. Als wolle es diese nicht. Und wirklich ist es ja auch so, dass es für den Künstler einfacher gewesen wäre, Erklärungen abzugeben, wenn ihn danach verlangt hätte. Er aber wollte vieldeutige Verdichtungen, wollte Anwesenheit, Aufführung.

Ich will Sie aber nicht unzufrieden lassen. Was ich ihnen heute zu geben vermag, ist, sie näher an das Tun von Irmel Droese heranzuführen, damit es Ihnen unter die Haut geht, ans Eingemachte, damit es dahin gelangt, wo es weiterleben kann: in ihr eigenes Leben und Erleben, Leiden und Hoffen, Zweifeln und Behaupten.

Es sind wenige Gedanken, die ich Ihnen nahebringen möchte. Drei an der Zahl, die kann man gut im Kopf behalten.

Der erste ist der der Zwiesprache mit dem Material bzw. der Veräußerlichung durch das Material. Immer wieder habe ich bemerkt, dass Menschen, die beginnen, sich mit dem Zeichnen zu beschäftigen, ausschließlich an das denken, was sie darstellen möchten. Dabei vergessen sie, dass das erste, was man als Betrachter einer Zeichnung erlebt, gar nicht das ist, was dargestellt wurde. Zuerst spürt man die Art des Papieres, seine Rauheit oder Glätte, die Art und Weise, wie das Licht auf die Oberfläche fällt, aber auch wie leicht, biegsam oder schwer und sperrig es ist, wie sehr es zu gilben oder aber, wie sehr es sich diesem Alterungsprozess zu widersetzen vermag. Material erzählt laut vor sich hin, weckt viele in uns abgespeicherten Erfahrungen, Empfindungen, Gefühle und Erlebnisse. Ohne dass wir einen Strich machen, sagen wir schon viel durch die gezielte Auswahl des Materials. Wir müssen es nur zum Sprechen, zum Klingen bringen. Dazu gehört gleichzeitig, ein Maß zu bestimmen, eine Größe zu wählen. Wie sehr unterwerfen sich viele den Gegebenheiten, akzeptieren diese als vorgegebene Norm, wie sie vorgezeichnete Handlungs- und Lebenswege nicht in Frage stellen. Denn jedes Format evoziert schon ein Feld des Handelns, bestimmt unsere Bewegungen, befördert oder dämpft sie. Bevor wir beginnen, einen einzigen Strich auf das Papier zu setzen, einen Strich, der sich im gesetzten Feld aufhalten wird, der das Feld gliedert, zerschneidet, es mit Energie auflädt oder es beruhigt.

Irmel Droeses große Puppenfigur, die Begleiterin ihrer Aktionen, ist aus grauer Pappe gefertigt, die sich gegen eine sanfte Formbarkeit sperrt. Trotz der Größe ist der entstandene Körper leicht, ja fragil und verletzlich. Mit großer Umsicht muss er aus seinem Papp-Sarkophag hervorgeholt und hochgehoben werden. Er ist nicht aus Fleisch und Blut, er ist ganz schlummernde Empfindung, die jede Berührung der Künstlerin, jeder ihrer Handgriffe, weckt. Wir, die wir die graue Hülle sehen, die wir jede Bewegung der Gelenke als eine Reaktion auf das Bewegtwerden durch Irmel Droese registrieren, empfinden mit dem Wesen, das einmal Kind, einmal Alter Ego, in der Künstlerin selbst schlummernde Figur ist. Wie sehr ist das ärmliche, unedle, dass membranartige, leicht zerstörbare Material Graupappe Träger des Impulses, der uns berührt? Jenseits der aus ihm gefertigten Spielfigur?

Dies gilt auch für die figürlichen Wandarbeiten. Z.T. sind sie aus Ölpapier gefertigt. „Um Munition darin zu verpacken“, beschreibt Irmel Droese seinen Verwendungszweck. Ich kenne es noch aus meiner Kindheit. Die Trix-Modelllokomotiven meines Vaters waren darin eingewickelt. Um das Ansetzen von Rost zu verhindern. Schützende Hülle gegen Feuchtigkeit. Es war rötlichbraun, durchscheinender als Papier, reißfester, wie eine Art Haut, und knitterte mit hellen Bruchkanten. Wie geäderte sah es aus, wenn es oft gebraucht worden war.

Im Osten Deutschland hätte sie davon eine ganze Rolle entdeckt, erzählt Irmel Droese, und erst einmal mit nach Hause genommen. Lange stand diese Rolle unbenutzt herum, bis sie das Material für sich entdeckte. Nun fertige sie daraus Körper, und erlebe sich dabei wie ein plastischer Chirurg. Sie schneide auf, stopfe aus und schließe die „Wunden“ wieder mit einigen Stichen. Kleben ließe sich schließlich das ölige Material nicht.

Und die Stiche bleiben sichtbar. Überhaupt ist die Figurenwelt von Irmel Droese eine Welt der Verletzung und der Verletzbarkeit, der Dünnhäutigkeit, durch die alles hindurchsickert, nicht ausgegrenzt werden kann, betroffen macht.

Nähen liegt Irmel Droese nah. Schon seit der Kindheit. Lange habe sie sich an ihren älteren Brüdern orientiert, eiferte ihnen nach in ihren Spielen und Verhaltensweisen, erlebte sie als Vorbild, sah auch dementsprechend aus. Wann sie, Irmsche, denn damit aufhören wolle, habe ihr einmal ein Nachbar gesagt, wann sie denn eigentlich ein Mädchen werden wolle. Das habe ihr sehr imponiert und sie nachdenklich gemacht. Und ab dann wollte sie weiblich sein, ein Mädchen sein und eine Frau werden. Mit zwölf Jahren hat sie sich dann eine Käthe Kruse-Puppe gewünscht, die sie im Gespräch mit mir sofort herausholt. Viel zu spät, um mit Puppen zu spielen, habe man ihr zu diesem Wunsch gesagt. Aber früh genug, um in Puppen zu denken, um sich in Puppen und mit ihnen auszudrücken – auch um sie zu benähen, zu bekleiden, fand Irmel Droese selbst. Und sie tat es sofort, als der Wunsch in Erfüllung ging. Noch heute trägt die Puppe das glockenförmige Kleid im Stil der fünfziger Jahre mit einer kleinen, aber feinen Taschentuchtasche. Seitdem gehört das Nähen zur Künstlerin, die Beschäftigung mit der Hülle, dem Kleid, dem Schutz des Körpers und der Verhüllung des Eigenen, Privaten, Intimen.

Der zweite Hinweis, den ich Ihnen geben möchte, ist der auf die Figur bei Irmel Droese, die eigentlich immer eine Puppe ist, manchmal auch in der Form eines Fetisches. Es geht um die Zwiesprache mit der Figur, um das sich Veräußerlichen durch die Figur. Ganz erfüllt ist die Künstlerin vom Faszinosum der Belebung eines toten Gegenstandes in der Zwiesprache des Spiels. Es braucht nicht viel, um eine Figur zu animieren, um ihr eine Seele einzuhauchen. Als Kind habe sie einmal einen kleinen Kopf geschenkt bekommen, der seine Zunge herausstreckte, sobald man an einem Faden zog. Wie betört sei sie davon gewesen. Tief berührt habe sie dies kleine Spielzeug. Nach dem Fest war das Köpfchen aber weg und die Not groß – obwohl es doch nur ein kleines Mitbringsel war. Tief war die Figur mit ihrer Zunge aber schon in Irmel Droese herabgesunken und hatte sie in ihrer Mitte berührt.

Mit ihren Händen zeichnet sie durch ihre Puppen vergängliche Bilder. Ein Stück Holz mit dicken Bindfäden als Beine und Arme reicht. Oder ein Kopf mit Armen und einem Kleid, unter dem Irmels Hand verschwindet. Je rudimentärer, desto offener, desto ausdrucksfähiger, desto mehr dem eigenen Formen und Führen unterworfen, von ihm belebt, in Aktion gebracht, wie Irmel Droese es gerne nennt. Nah am eigenen Körper muss es immer sein, gar, als ob die Puppe aus ihr herauskäme, wie die Sprache aus unserem Mund kommt. Was bei ihr ja so oder so geschieht, wie Sie gleich noch in beeindruckender Weise erleben werden. Kein Wunder, dass Irmel Droese für sich eine Theaterform entdeckte, bei der sie nah am eigenen Körper selbst die Bühne trug und das ganze Geschehen bestimmte. Die eigenen Hände leihen der Figur Aktion, die eigene Stimme leiht ihr Wille, ist Ausdruck von Fürsorge, einer Bezugnahme auf das betreute Wesen, das dem eigenen Leben, dem eigenen Körper und seinen Regungen, den Bewegungen des Innenlebens, entspringt.

Der dritte Hinweis gilt den Geschichten, mit denen Inneres zur Sprache kommen kann. Bei unserem letzten Gespräch hast Du, Irmel, mir von der Bedeutung des Märchens „Frau Holle“ erzählt, das immer wieder einmal, wie auch andere uns bekannte Märchen, Grundlage für Deine Zeichnungen und Bilder geworden ist. Erwähnt hast Du, dass es für Dich eine Metapher für Künstlertum sei. Recht verstandenes und falsch aufgefasstes. Besonders berührt seist Du von der Gestalt der Goldmarie, die in großer Not von ihrer Stiefmutter gezwungen wird, in einen Brunnen zu springen, um eine dort hineingefallene Spindel wieder heraufzuholen. Der Brunnen ist für Dich eine Art umgekehrter Turm, in dem man hinaufsteigen muss, um etwas erreichen zu können. Und wirklich „fällt“ ja die Goldmarie auch auf eine Wiese, die über den Wolken sein muss, denn als Magd von Frau Holle schüttelt sie schließlich Schnee auf die Erde und wird schließlich von ihrer himmlischen Herrin für ihre selbstlosen Dienste mit Gold belohnt, was ihr den Namen gibt und den großen Neid von Mutter und Stiefschwester bei ihrer Rückkehr einhandelt. Für Dich ist der Fall hinein in den Brunnen einer, der ins eigene Innere führt, eine Art erzwungene Introspektion. Dabei begegnen Goldmarie Prüfungen, die uns alle geläufig sind, der Ofen, aus dem das Brot ruft, und der Baum, dessen reife Früchte herabgeschüttelt werden wollen. Der Ofen ist Dir ein Zeichen für die Energie, die wir in unserem Inneren erschließen müssen, die wir aufgreifen müssen, um unsere Kreativität zu nutzen. Aber auch in Bewegung müssen wir uns setzen, den Apfelbaum kräftig schütteln, damit wir die Früchte unserer kreativen Energien ernten können. Wir müssen das Ganze in Aktion bringen, um aus unserem Inneren hinausgelangen zu können. Nur dann ernten wir das Licht, das Leuchten, das vom Gold symbolisiert wird, einen inneren Reichtum, der nach außen strahlt. Eben, wie der Titel der Ausstellung sagt: „IN-BEWEGUNG-ERLEBEN“. Die Goldmarie war ja ganz fleißig in ihrem Inneren. Sie hat gedient, und wurde dafür belohnt. Die Pechmarie dagegen hat nur kopiert, hat sich nicht wirklich ihre eigene Energie erschlossen. Alles blieb nur noch kalt und technisch. Und so wird sie schwarz, wird mit Teer übergossen, was angeblich ihr ganzes Leben auch nicht mehr abgegangen ist, wie Du ergänzt hast.

Für Dich ist diese Geschichte des Rätsels Lösung. Wie wir innerlich arbeiten, an unseren Energien und an unseren Früchten, die wir versuchen, nach außen zu tragen. Wenn wir nicht das wahrhaftige Bild innerlich erarbeiten, dann kommt auch nichts nach außen. Alle Leute stellen sich innen was vor. Aber dass man auch daran arbeiten muss, dass das Mühe macht, damit es wirklich nicht Pech wird und unsere Ausstrahlung verdunkelt, das tun nur wenige. Dass eine Wahrhaftigkeit entsteht, wie Du sagst.Wichtig ist aber auch, dass man immer wieder zurückgeht aus dem Inneren, dass man immer wieder zurückgeht in die Welt. Sonst wird man ja wahnsinnig, sagst Du mir. Man muss die ganzen Erfahrungen, die im Inneren verwahrt liegen, nach außen bringen. Nicht nur Rütteln und Schütteln, sondern auch wieder hinausbringen. Dies alte Märchen kann eine wunderbare Beschreibung der Kraft sein, die wir suchen, wenn wir schöpferisch tätig sein wollen – egal, in welchem Metier!

Also, meine sehr verehrten Damen und Herren: seien Sie eine Goldmarie – oder ein Goldmarius – und nutzen Sie das heute Gesehene, um selbst in sich hinab- oder wieder hinaufzusteigen. Auch wenn es Mühe macht. Das Strahlen lohnt sich für alle. Gutes Gelingen! Und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Irmel Droese
In-Bewegung-Erleben - Zeichnungen, farbige Blätter, Figuren
Ausstellung Städtische Galerie Hilden
25.2.2010

Simone Letto

Ende Februar habe ich mich auf den Weg zu Simone Letto gemacht, um Material für eine Rede über ihr Werk zu sammeln. Da ich ebenso wie die Künstlerin in Düsseldorf wohne, wurde daraus keine lange Fahrt. Immerhin jedoch wechselte ich die Rheinseite, was für manchen Bewohner des Linksrheinischen schon bedeuten kann, dass man sich, wie man bei uns zu sagen pflegt, nach „Asien“ auf den Weg macht. Denn bis ans linke Ufer kamen die Römer und damit kam die abendländische Zivilisation. Das rechte Ufer aber wurde, jedenfalls nach dieser Art Geschichtsbetrachtung, von unkultivierten, verrohten Stämmen besiedelt, Völkerwanderungsgesocks aus „Asien“ eben.

Langsam jedenfalls fuhr ich an jenem Spätwinter-Nachmittag durch das enge Straßen-Gitterwerk unserer Siedlung, um mich auf einer breiten Straße in den dichten Feierabend-Verkehr einzureihen. Meist saß nur ein Mensch in jedem Fahrzeug. Viele hörten sicher wie ich Radio, irgendeine Art Musikkonserve oder telefonierten. Jeder war bei sich und doch war es eine Masse.

An den Kreuzungen staute sich der Verkehr. Alle fügten sich klaglos und besonnen den bekannten Regeln. Immer wieder rückten Autos vor und fuhren fort. Der Rest wartete diszipliniert – ein täglich gleiches Ritual. Zügig ging es über die Brücke, unter der ich den Rhein mehr ahnte als sah. Im Kopf legte ich mir die Straßenverläufe und Kreuzungen zurecht, auf denen ich die Wohnung der Malerin erreichen könnte. Als die Fahrt endete und mein Wagen auf einem nah gelegenen Parkplatz zur Ruhe kam, hatte er eine halbe Stunde lang nur glatte, schwarze Asphaltoberflächen berührt und war ausschließlich an Gebautem vorübergeglitten. Bewegt hatte ich mich fast nur durch Artifizielles, das man nach menschlichem Plan errichtet hatte, nach Maß und Zahl, Ausdruck menschlicher Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte, aber auch technischer und wirtschaftlicher Möglichkeiten und Zwänge.

Selten frage ich mich bei solchen Fahrten, welcher „gewachsene Grund“ sich unter dieser Stadtgestalt, diesem Stadtsystem befinden mag, Erde, Sand, Kies, Fels? Und was sich früher dort befand, als es dort noch keine Stadt der Menschen gab. Ab und zu erhascht mein Blick in der Dämmerung eine Baumsilhouette, manchmal auch einen Grasstreifen. Zwar weiß ich, dass dies Menschending Stadt nicht alles ist auf der Erde. Und dennoch ist es meine Umwelt, an vielen Tagen des Jahres meine Welt. Und dabei bin ich nicht allein. Die Gruppe der Stadtbewohner auf der Erde wird immer größer als diejenige der auf dem Lande Lebenden. Sicher gibt es Natur, sicher Pflanzen und Tiere, Meere, Gebirge und Wüsten. Doch im Alltag liegen diese weit ab, am Rand, sonst noch irgendwo.

Und dann kam ich in Simone Lettos Atelier und stand gleich zwei Bildern gegenüber, die gebaute Welt zeigen. Eine weitläufige, kahl und kalt wirkende Bahnhofsetage mit fast endlos vielen Bahnsteigen und wartenden Reisenden sowie ein eingerüstetes Haus mit Bauarbeitern. Zwei gebaute Bilder von Gebautem. Wo alles präzis gezeichnet ist. Jede Gerade genau gerade, am Lineal ausgerichtet. Jeder rechte Winkel unverzerrt mit 90 Grad. Bilder voller Ordnung, voller Maß und voller strenger, nüchterner, mathematischer Struktur. Bilder, die jene Bauwerke zeigen, die in ihrer Zweckform optimiert sind, deren Planung sich ausschließlich dem Nutzwert verpflichtet sieht. Vernunftgemäß. Keine Schnörkel, nichts Verspieltes, keine verschönernden Details. Keine Zufälle, kein Chaos. Nichts Verwirrendes.

Diese Bauten, Außen- und Innenräume, baut die Malerin in das Feld Ihrer Bilder, wie ein Kind die Bauklötze in seinen Kasten zurückräumt. Wenn alles passt, wenn alles Stoß an Stoß, Naht an Naht, ohne Lücke aufgeht, dann entsteht eine eigene Schönheit. Doch dies ist nur eine Ebene, nur die der Fläche. Denn nun geht es auf den fluchtenden Linien hinein in den Raum, bis sich alle die Schrägen auf einer weit entfernten Horizontlinie treffen. Fasziniert, wie gebannt, schaut die Malerin für uns auf das Geschehen, unverrückt. Doch welche Kunst besteht darin, diese Ebene des Fluchtens, dieses Auffalten der Raumillusion, all diese Schrägen mit der Flächenordnung zu versöhnen! Mit ordnender, kluger Hand sorgt Simone Letto dafür, dass das Gezeigte zum Bild wird, dass es wohl komponiert ist, dass die einzelnen Bildfelder und Teilbilder unverrückbar miteinander verbunden werden. Ein harmonisch gefügter Kosmos. Von eigener Formqualität wie ein gut gemachtes Ding. Und die Malerin steht damit in einer Bildtradition, die in jener Zeit die Welt eroberte, in der dieser Ausstellungsraum hier des Ulmer Kunstvereins, der Schuhhaussaal, entstanden ist. Als die Menschen begannen, sich die Dinge so anzusehen, wie sie wirklich sind. Als Albrecht Dürer heimlich Leichname zeichnete und sich Gedanken über die Proportionen machte, nach denen jeder menschliche Körper gegliedert sein müsste. Denn in den Proportionen, in den Maßverhältnissen der Schöpfung im Ganzen und ihren Teilen, müsse sich doch göttlicher Geist zeigen. So glaubte man jedenfalls noch in der Renaissance. Geblieben ist das Faszinosum der Zentralperspektive und das von Maß und Zahl.

Natürlich haben wir wieder auch über das Filmische in den Bildern miteinander gesprochen, über die unterschiedlichen „Kameraeinstellungen“, so will ich es einmal nennen, die Simone Letto anwendet, um ihre Bilderzählungen in einer zeitlichen Abfolge zu entwickeln. Anders aber als im Film verschwinden die einzelnen Bilder bei ihr nicht, um den folgenden Platz zu machen. Vielmehr fügt sich das Nacheinander zu einem Beieinander, zu einem geschlossenen Ganzen. Faszinierend ist dabei, dass die zeitlich und perspektivisch, d.h. hinsichtlich des Betrachterstandpunktes getrennten Inhalte kompositorisch aufeinander bezogen und miteinander verwoben werden. Wie sinnträchtig solch ein Bezug sein kann, habe ich am Kuppelmosaik des Baptisteriums in Florenz gelernt. Szenen des Alten und des Neuen Testamentes sind dort in zwei Kreisringen direkt untereinander angeordnet. Jede Szenenfolge gehorcht dabei der Logik der zeitlichen Entwicklung. Durch die kompositorische Anordnung der beiden Bildringe jedoch ergeben sich viele übereinander liegende Bildpaare, wobei jeweils einem Geschehen im Alten ein solches des Neuen Testamentes zugeordnet wurde. So geht im Neuen Testament in Erfüllung oder wiederholt sich in anderer Form, was sich im Alten ankündigt.

Indem sich bei Simone Letto „die Schlange Zeit“ sozusagen manches Mal „in den Schwanz beißt“, überschreitet die Malerin im Tafelbild das, was Film oder Comic nicht vermögen und bezwecken, denn ihre zeitliche Entwicklung ist unumkehrbar. Und so wird auch verständlich, warum die Malerin an der Düsseldorfer Akademie zuerst Bühnenbildnerin werden wollte, sich dann aber entschieden hat, Ihre Erzählungen sich zu einem Gesamtbild runden zu lassen. Dass ihr dabei der moderne Moritatengesangs-Künstler Fritz Schwegler als Professor ein guter Führer auf dem eigenen Weg der Bildfindung war, ist wohl nur zu gut nachvollziehbar.

Beim Betreten der Letto'schen Wohnung ist mir übrigens wieder ein Bild aufgefallen, das mich schon beim letzten Besuch überrascht und erfreut hat. Ein wunderschöner farbiger Siebdruck von Max Bill. Ein zutiefst optimistischer Lichtblick. Drei senkrechte Reihen von auf die Spitze gestellten Quadraten, die sich an ihren Ecken berühren wie miteinander spielende Kinder. In drei nur wenig voneinander unterschiedenen Rottönen, ein etwas rosafarbener, lichterer und kühlerer, daneben ein eher idealer, reiner und dann ein warmer, zum Orange neigender. Und dazwischen blaue und grüne Quadrate. Oder zwischen den blauen und grünen Quadraten rote. Denn es gibt keine Hierarchie mehr, keine zwischen der wichtigen Form und dem unwichtigen Grund, zwischen dem Herrn und dem Diener.

Und so ist die Bild- und damit Vorstellungswelt von Max Bill im ganz privaten Reich der Künstlerin anwesend. Von Max Bill, der das Denken des Bauhauses, dessen Internationalität, demokratische Gesinnung, Freiheit und Würde eines aufgeklärten Menschentums nach dem Zweiten Weltkrieg in die Bundesrepublik gepflanzt hatte. Als Leiter der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Beseelt vom Glauben, dass das „Neue Bauen“, der „Internationale Stil“, alles Dunkle, Abgründige und Verworrene aus dem Leben der Menschen vertreiben könnte. Dass Menschen, die inmitten einer gestalteten Umwelt aus elementaren Formen und reinen Farben leben, menschlicher mit sich und miteinander umgehen.

„Für Simone“ heißt es auf dem Siebdruck am Kopfende des Wohnungsflures. Denn Max Bill hat ihn zur Geburt der späteren Malerin in Stuttgart verschenkt. So jedenfalls meint Simone Letto es von ihren Eltern gehört zu haben, die mit dem Schweizer Maler, Bildhauer, Gestalter und Architekten gut bekannt waren. Was ich bei Ihrem Vater verstehen kann, von dem sie mir ein paar künstlerische Arbeiten gezeigt hat. Konkret wie die Werke von Max Bill kann man diese sicher nennen.

Und letztlich mag Max Bill 1965 mit dem Bild-Geschenk zur Geburt noch mehr an die Künstlerin weitergegeben haben, seine Liebe zu Maß und Zahl, zur präzisen Graphik und zur geklärten Form. Und auch in Düsseldorf hat er Simone Letto bis zum letzten Jahr begleitet. Denn 1971 hatte er in kluger Weise die Räume der renommierten Galerie Denise René/Hans Mayer am Grabbeplatz im Herzen der Stadt gestaltet – nun hat man sie für einen Neubau abgerissen, während der Siebdruck weiter bei Simone Letto hängen bleiben darf.

Im Gespräch über Max Bill waren wir uns bald einig, dass wir den Zukunftsoptimismus seiner Generation nicht uneingeschränkt teilen können. Wir kennen zu sehr die weiteren Entwicklungen jener Bauideen der Moderne, ihre verhängnisvolle Banalisierung im industrialisierten, typisierten Bauwesen. Während unseres Gespräch ging Simone Letto ins Nachbarzimmer und holte eine Fotografie. Ein Luftbild von Steilshoop, einer Trabantenstadt für 22.000 Menschen, die im Nordosten von Hamburg ab 1969 auf einem ehemaligen Kleingartengebiet entstand. „Die Großsiedlung wurde“, wie man in Wikipedia lesen kann, „in Form eines riesigen flachen V's geplant, gebildet aus zweimal acht Hausringen ...“ Nach Steilshoop kam die spätere Malerin mit acht Jahren. Und fand sich nur zurecht, weil die einzelnen Hausringe mit großen Figurenformen aus reinen Buntfarben gekennzeichnet waren. Sonst waltete Monotonie. Ordnung pur. Licht, Luft und Sonne reichhaltig. Aber auch Langeweile. Keine Geheimnisse. Keine Rätsel. Keine Geschichte.

Und auch das zeigen ihre Bilder. Häuserberge, die mit ihrer Kaltherzigkeit Menschen erdrücken können. Kleine Menschen. Unwichtige Menschen. Die sich zu verlieren scheinen im ungeheuer großen, allgewaltig regulierenden System ihrer Alltagswelt. Und sich dort doch mit der größten Selbstverständlichkeit bewegen. Fraglos. Unbedrückt.

„Insgesamt, glaube ich,“, kommentierte die Malerin nachdenklich ihre Bilder, „ist der Mensch nicht das Wichtigste in der Welt. Es dreht sich zwar viel um ihn, aber er ist überbewertet. Immer wieder wird der Blick verloren für alles andere, was es noch gibt.“ Ja, dachte ich, und wir führen einen permanenten Tanz auf um das goldene Kalb „Individualität“. Und merken nicht, wie wenig Eigenes wir ersinnen. Da ist es doch nur angemessen, dass Simone Letto ihr Personal auf den Bildern typisiert. Normalität herrscht dort. Wohltuende, unprätentiöse Alltäglichkeit.

Natürlich hat mir die Künstlerin im Februar auch fast alle Werke gezeigt, die sie mit nach Ulm nehmen wollte. Viele davon kannte ich, eines aber war mir neu, als hätte ich es nie gesehen. Es ragt heraus aus der großen Gruppe der anderen Bildtableaus, da es Schriftsprache verwendet und nicht auf ein Seh-, sondern ein Leseerlebnis zurückgeht. Auf 180 Einzelbildern, in 15 parallelen Reihen von je 12 Bildern, entwickelte die Malerin dort in Schrift- und Bildtafeln die Kurzgeschichte „Kaleidoscope“ des amerikanischen Science-Fiction-Autors Ray Bradbury, dessen berühmter Roman „Fahrenheit 451“ von Francois Truffaut verfilmt wurde. „Gerade weil Technik bei ihm nur eine untergeordnete Rolle spielt, mag ich seine Geschichten.“, erzählte mir Simone Letto, „Es hat eine Explosion gegeben, wodurch die Insassen eines Raumschiffes in den Weltraum geschleudert wurden, wo sie der sichere Tod erwartet. Das Raumschiff ist unwichtig. Nur die Dialoge zwischen den Menschen zählen, die in ihrer verbleibenden Zeit, nachdem sie begriffen hatten, dass sie nichts mehr für ihre Rettung tun können, auf der Suche nach Sinn sind.“ Und ich denke, ob nicht auch einige andere Bilder dieser Ausstellung von solch einem Nachsinnen über die Essenz der Existenz handeln.

„Man könnte sich über so vieles wundern“, sagte mir die Malerin noch, bevor ich ging. Und sie hatte recht. Verführt von einer Aufmerksamkeitshaltung, die nervös immer nach dem Neuen, Ungewohnten Ausschau hält, nach mehr, besser und schöner sucht, verlieren wir die Andacht vor den kleinen Dingen. Den Blick für die Nebensächlichkeiten, für das Dazwischen, für graduelle Unterschiede, für das Sosein der Dinge. Und das gerade liebe ich an den Letto-Bildern: die fast akribische Lust, wie das Herabtrudeln von Papier geschildert wird, das Auffinden einer einzigen Schraube inmitten des Wirrwarrs eines Schrottplatzes, das magische Verschwinden einer gegenüberliegenden Fassade beim Herablassen einer Jalousie oder das ununterbrochene Kreisen eines Satelliten im Weltraum. Kleinste Geschichten voller Grazie und Eindringlichkeit. Mit größter Acht- und Aufmerksamkeit vorgetragen. Und mit metaphorischer Qualität versehen. Vor einigen Jahren habe ich sie in einem Text bildliche Haikus genannt, nach der strengen japanischen Dichtform. Dreizeiler aus fünf, sieben und fünf Silben.

Und das finde ich immer noch und möchte deshalb mit einem Haiku schließen. Geschrieben wurde er von Matsuo Bashô, der von 1644 bis 1694 lebte. Sein Gedicht heißt auf Japanisch:

Furuike ya
kawazu tobikumo
mizu no oto

und auf Deutsch, wobei die strenge Silbenform bei Wahrung des Sinngehaltes leider nicht übertragbar ist:

Alter Teich -
ein Frosch springt hinein -
Klang des Wassers

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim eigenen Bildentdecken und bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Haben Sie noch ein schönes Wochenende!

Simone Letto – Malerei
Kunstverein Ulm
26.3.2011

Katsuhito Nishikawa und Tomas Riehle

Bevor wir uns gemeinsam die hier ausgestellten Möbel und Fotografien genauer betrachten, möchte ich Sie mitnehmen auf einen Weg zurück, in die Geschichte, in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, in die Zeit der Technikeuphorie der sich rasant ausbreitenden Industrialisierung. Und des Historismus, also der Vorstellung, dass man je nach Bau- oder Gestaltungsaufgabe einen ihr angemessenen historischen Stil in seiner reinsten Form anzuwenden habe. Gotik als die Zeit des tiefsten Glaubens für eine Kirche und Florentinische Renaissance für eine Börse, weil man dort den modernen Geldverkehr erfunden hat. Schwierig wurde es nur mit neuen Bauaufgaben, Bahnhöfen, großen Fabriken und Eisenbahnbrücken. Oder mit neuen Geräten, wie etwa Heizkörpern oder Ventilatoren. Hier wurde dann heftig fabuliert und stilistisch inszeniert. Bloß nicht die Zweckform zeigen. Das grenzte an Barbarei, an Rohheit, an Kulturlosigkeit.

In England entstand als Reaktion eine Bewegung von Malern aus dem Kreis der Präraffaeliten. Eigene Formen der Gestaltung wollten sie entwickeln, waren selbstbewusst genug zu behaupten, dass ihre Zeit kraftvoll und bildnerisch intelligent genug sei, um einen eigenen Stil zu ersinnen. Vor allem aber machten sie sich Gedanken über den Zusammenhang von Fertigung und Formgebung. Wenn zuvor Künstler Dinge nur entwarfen, die Fertigung aber Handwerkern überließen, so kritisierten diese Anhänger der Arts&Crafts-Bewegung, wie sie sich selbst nannte, dass die Künstler keinerlei Ahnung von der Fertigung als solcher hatten. Sie wussten zu wenig von den Eigenschaften der verwendeten Materialien und von den Möglichkeiten der Formgebung, die im Werkzeuggebrauch und den handwerklichen Fertigungsmethoden selbst steckten. Nein, sie wollten den Dingen keine schöngeistigen Formen mehr überstülpen, sondern ihrem Wesen nachspüren. Und endlich die verwendeten Materialien selbst kennenlernen. Im Tun, in der Verwendung. Revolutionär war es, dass sie schreinerten, schnitzten, webten und töpferten, Metall trieben, löteten und nieteten, ja ganze Häuser selbst entwarfen und gemeinsam bauten. Das hatte zuvor kein Künstler getan. Immer mehr Anregungen erhielten sie so für ihre Formungsprozesse. Wie man Holzverbindungen in ornamentierender Weise nutzen konnte, wie Webmuster aus dem Ineinandergreifen von Kette und Schuss entstehen konnten oder Metallverzierungen aus dem Schlagen mit unterschiedlichen Hämmern.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Mut der Engländer über ganz Europa. Ein junger belgischer Künstler z.B., Henry van de Velde, suchte alles, was er von der englischen Bewegung finden konnte. Mit vielen anderen jungen Künstlern und Kunsthandwerkern, wie sie sich damals nannten, zusammen schuf er das, was wir in Deutschland Jugendstil nennen, in Frankreich Style moderne, in England Modern Style usw. Eine Welle neuen Stils schwappte über ganz Europa. Entscheidende Jahre seines Lebens arbeitete Henry van de Velde auch in Weimar und schuf dort eine neue Art Kunstschule. Nicht mehr das Studium und Kopieren historischer Stile stand dort im Vordergrund, sondern die handwerkliche bzw. kunsthandwerkliche Praxis und das Lernen von der Natur, von ihrem Formenschatz.

1919 wurde aus dieser Schule das Bauhaus, das uns allen so bekannt ist. Eine Kaderschmiede für ein neues Denken bezüglich der gestalteten menschlichen Umwelt, streng bezogen auf die Bedingungen industrieller Massenfertigung. Nicht mehr künstlerisch wertvolle Einzelstücke zu ersinnen und anzufertigen war das Ziel, wie es die Arts&Crafts-Künstler und auch die Künstler des Jugendstils getan hatten, für eine kleine, elitäre Abnehmergruppe. Vielmehr ging es darum, die Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsgruppen zu verbessern. Und durch eine maßvoll gestaltete Umwelt positive Impulse zu setzen. Und nun galt die Zweckform als die ehrlichste, wahrhaftigste, voller Kultur und Zivilisation. Aller aufgesetzter Schmuck dagegen wurde geradezu als falsch angesehen, manchmal auch als unmoralisch gebrandmarkt.

Eigentlich schon viel früher hätte ich Japan erwähnen müssen, die Lehrmeisterin vieler Künstler und Kunsthandwerker, von denen ich gesprochen habe. In dunkle europäische Wohnräume im braunen Galerieton, vollgestopft mit historisierenden Reminiszensen, brach die lichte, geradezu spartanisch karge Welt japanischer Wohnkultur herein. Künstler, die nach neuen Wegen suchten, waren hellauf begeistert von der neuen Welt, die sie auf den Weltausstellungen zu Gesicht bekamen. Schlicht war hier alles. Schmuckformen entstanden aus Fertigungsweisen. Pur wurden die Materialien belassen, nicht kaschiert zur Vortäuschung anderer Qualitäten. Eine respektvolle Andacht gegenüber dem Natürlichen. Noch die einfachsten Dinge waren schön, die schönsten Dinge einfach. Keine Gemälde, keine üppigen Rahmen, keine repräsentativen Möbel, keine Statuen und vieles mehr. Nur ein einziges Bild hing in den Räumen, in einer Nische. Und selbst da wusste man nicht, ob man es denn so nennen konnte. Denn es war nur ein Stück aufrollbares Papier, das je nach Jahreszeit gewechselt wurde. Und auch Stühle, Tische, Schränke und Betten fehlten. Aufbewahrt wurde verborgen in der Wand. Und alles hatte seinen Platz und Ort, von einer feinen, stimmigen Ordnung durchdrungen. Viele Biografien europäischer und amerikanischer Gestalter gibt es, in denen Japan eine große Rolle spielt. Z.B. die Architekten Bruno Taut aus Deutschland oder Frank Lloyd Wright aus Amerika.

Warum erzähle ich Ihnen dies alles? Damit wir uns den Hintergrund klar machen, vor dem diese Ausstellung nur möglich ist. Denn in der geschichtlichen Folge all dessen, was ich berichtet habe, steht das Werk von Erwin Heerich. Ohne Arts&Crafts, Jugendstil, Bauhaus und wohl auch Japan ist Erwin Heerichs Werk nicht denkbar, das immer wieder einmal in die Nähe der sogenannten konkreten Kunst gebracht wurde. Weil seine Arbeiten ohne Darstellungsbezug sind. Ganz aus sich selbst entstanden und sich gänzlich selbst bedingen. Weil sie in spiritueller Weise mit Maß und Zahl befasst sind und den Mut besitzen, in unserem Leben ordnend und klärend Impulse zu setzen.

Ohne Erwin Heerich jedenfalls hätten sich Katsuhito Nishikawa und Tomas Riehle wahrscheinlich nicht kennengelernt. Beiden war er ein wichtiger Lehrer und Gesprächspartner. Seine lebenslange Beschäftigung mit Beziehungen zwischen Flächen- und Raumform, sein Nachdenken über Materialgerechtigkeit und über Wahrhaftigkeit in der Formgebung wie auch über Struktur- und Ordnungssysteme war für sie ein fruchtbares Dialogfeld zur Entwicklung eigener Bildsprachen. Und beide sind bis heute mit dem größten Abenteuer seines Lebens verbunden, dem Museum Insel Hombroich und der Raketenstation, wo die ganze Bandbreite seines Tuns, vom Bild über die Objekt-Skulptur und das Spielzeug bis zu Möbeln und begehbaren Raumplastiken präsent sind.

Tomas Riehle hat durch seine Fotografien ganz entscheidend das Außen-Bild der Insel und der Arbeiten von Erwin Heerich geprägt; Katsuhito Nishikawa arbeitet schon lange dort und ist vor einigen Jahren auch dort hingezogen, und ist dabei seinem Lehrer im Entwerfen von raumhaltigen Großplastiken und Möbeln gefolgt.

„Nein, ein Designer bin ich nicht“, erzählte mir der japanische Künstler vor kurzem in seinem Atelier. „Ich arbeite nicht an einem Auftrag, mache mir keine Gedanken über einen möglichen Bedarf, über Konsumentengruppen usw.. Vor 25, vielleicht auch schon 30 Jahren habe ich Möbel gebraucht und mir welche gebaut. So, wie ich sie mir selbst gewünscht habe. Für mich sind Menschen und Natur die Hauptsache. Alles andere in unserer Lebensumgebung soll nicht auffallen, am liebsten unsichtbar sein. Nicht sprechen, wenn Du verstehst, was ich meine. Nicht stören sollen sie. Und die meisten Möbel, die ich kenne, stören mich. Also habe ich schlichte Stühle gemacht, deren Form wahrscheinlich einem japanischen Raum-Denken entspringt. Aus dem Material, aus dem ich damals meine Plastiken machte, aus dünnem Flugzeugsperrholz. Es ist selbst dünn stabil, dabei biegsam und verformt sich nicht. Und hell, da es aus leichtem Birkenholz gefertigt ist. Experimentiert habe ich auch mit verschiedenen Lacken. Am schönsten erscheint mir aber das unbehandelte Holz. Und ist es dreckig, so reinigt man es mit Holzseife. Kennst Du die? Wir reinigen auch die dreißig Jahre alten Tische von Erwin Heerich in der Cafeteria der Insel damit. Und die sehen immer wieder frisch aus!“

Gut sitzen können solle man auf seinem Stuhl. „Ein Stuhl, der nur schön ist, auf dem man aber nicht sitzen kann, ist einfach kein Stuhl“, konstatiert mein Gesprächspartner. Die Bequemlichkeit des Sitzens ist ihm bis heute wichtig. Lange habe er experimentieren müssen, bevor er die richtigen Maße und Winkel für seine Möbel fand. Schnell referiert er mir unterschiedliche Sitzhöhen, die in Japan gebräuchlichen, die bei uns verbreiteten, solche von Otto Wagner oder die von Mies van der Rohe. Am besten sei es natürlich, man entwerfe ein Möbelstück passend für ein spezielles Individuum und seine Sitzweise. Wie ein Kleidungsstück vom Schneider. Da mit einem und demselben Möbel jedoch unterschiedliche Menschen zurecht kommen müssten, ginge es darum, einen guten Kompromiss zu finden. Und der sei nicht so einfach zu finden, wie es die schlichte Form seiner Möbel suggerieren würde.

Während unseres Gespräches muss ich an eine Begegnung mit Katsuhito Nishikawas Haltung denken, die schon einige Jahre zurückliegt. Ein mittelständisches Unternehmen sollte ein neues Verwaltunsgebäude beziehen. Für unterschiedliche Räumlichkeiten der neuen Immobilie wollte man Kunstwerke erwerben. Ich wurde um Rat gefragt und hatte Katsuhito Nishikawa als Bildhauer vorgeschlagen. Er kam und ihm wurde ein großer Flurbereich im höchsten Stockwerk des Hauses gezeigt, von dem aus unterschiedlich große Konferenzräume zugänglich waren. Sogleich pries er ein großes, dort befindliches Fenster, von dem man einen weitschweifenden Blick über Stadt und umgebende Landschaft hatte. Das sei doch genug für jene, die dort zu warten oder zu pausieren hätten, sagte er uns. Da brauche es doch keine zusätzliche Plastik oder ein Bild. Ich war verblüfft, dachte ganz pragmatisch, und bedauerte, dass sich der Künstler selbst um einen möglichen Verkauf gebracht hatte. Empfehlen würde er, fuhr dagegen Katsuhito Nishikawa fort, schlichte Quaderelemente aus Birkensperrholz fertigen zu lassen, einige als Tischelemente mit Glasplatten auf der Oberfläche, andere ohne Glas zum Sitzen. „Und in das Parkett sollen kleine Stifte geschlagen werden, die angeben, auf welche Positionen man diese Möbelelemente stellen kann“, fuhr er fort. Damit bei aller Variation immer ein Wohlklang entstünde, sagte ich mir. Wie im traditionellen japanischen Raum, der von der Standardgröße der Tatami-Matten seine Maßlichkeit erhält.

Im Laufe der Jahre hat Katsuhito Nishikawa Erfahrungen mit neuen Werkstoffen gemacht. Und festgestellt, dass bei aller Globalisierung die kulturelle Prägung der einzelnen Länder doch noch gut erkennbar ist. So würde das uns so vertraute Multiplex in Japan und Amerika nicht hergestellt, müsste vielmehr teuer importiert werden. „Und als ich in Japan meine Stühle von einem Schreiner bauen lassen wollte“, erzählt mir der Bildhauer, „hat er abgelehnt, mit Holzdübeln zu arbeiten. Er würde es bevorzugen, die Teile miteinander zu verzinken, was ich als aufwändiger angesehen hätte. Er war es aber so gewöhnt.“

Für die neueren, hier gezeigten Möbeltypen werden nun die Elemente aus Eichen-Dreischichtplatten zugeschnitten. Sagt man dazu „Eiche massiv“, so denkt man bei uns leicht an gewichtiges Mobiliar im sogenannten altdeutschen Stil. Katsuhito Nishikawas Möbel sind aber alles andere als altdeutsch. Die Schnittkante der dreischichtigen Platte verleiht ihnen ein schlichtes Schmuckelement, das kräftige Holz selbst Stabilität. Und die Polster haben einen recht harten Kern, um formstabil zu bleiben und sind ohne jegliche Ziernähte mit einem festen Stoff bezogen. Und den gibt es natürlich nur in einem Naturton, Grau und Ocker. Kein Rot, das dem Inkarnat der menschlichen Haut Konkurrenz machen könnte!

Dass diese seine Haltung nicht überall auf Verständnis stößt, erfährt Katsuhito Nishikawa immer wieder. Z.B. in Thailand, wo er auf der Suche nach einer Fertigung von Möbelentwürfen für den Außenbereich aus Teakholz war. Kunstvollste Schnitzereien zeigte man ihm, Möbel, die voll davon waren. In der Pause der Handwerker sah er sie auf Hockern und an Tischen sitzen, die ihn sogleich wegen ihrer Formklarheit begeisterten. Aber das sei doch nicht erwähnenswert, wurde ihm geantwortet. So etwas ließe sich doch nicht verkaufen. Viel zu kunstlos, viel zu unauffällig. Wer wolle solche Dinge schon.

Ich glaube, Herr Bohn, Sie hätten diesen Handwerkern vehement widersprochen. Klar gäbe es dafür Interessenten! Die der Übersättigung müde sind. Die sich nach einer Umgebung sehnen, die ihnen nicht andauernd Reize offeriert. Die sich ganz auf die Menschen in ihrer Umgebung und auf Natur konzentrieren wollen. Und im wohlgestaltet Schlichten das Schöne zu erkennen vermögen. Lieber eine schöne Blüte auf einem schlichten Tisch, als ein blühender Tisch, der die Schönheit der Blüte übersehen lässt.

Ein Schwenk. Zu einer künstlerischen Gattung, die dem Reiz des Gesehenen verpflichtet ist. Die das Flüchtigste bannt, das Entfernteste und Entlegenste uns sehen macht, das Kleinste und Größte, das das jenseits unseres Blickapparates Existierende anschaulich machen kann. Und die uns in zunehmendem Maße mit Bildern überschüttet, deren Halbwertszeit rapide schwindet. Tomas Riehle, der an der Folkwang-Schule zuerst Industrie-Design studierte und sich dabei interessanterweise auch mit Möbelentwürfen beschäftigte, hat sich der Fotografie verschrieben, seit er eigene Design-Entwürfe mit der Kamera dokumentierte. Wollte man es salopp ausdrücken, so könnte man sagen, er sei ein Vertreter der „Slow Photography“. Solange ich ihn kenne, geht er den Weg seines Lehrers, aber in entgegengesetzter Richtung. Während dieser Flächenformen in den Raum hinein faltete, schreibt Tomas Riehle architektonische Ansichten, also Raumhaltiges, in die strenge Flächengliederung seines fotografischen Bildfeldes ein, überführt die Raumgestalt in eine Flächenordnung. Er erzählt nicht vom Erlebnis des architektonischen Raumes, ist kein Reporter, sondern übersetzt die architektonische Struktur in eine innerbildliche, setzt eine eigenständige, autonome, ja konkret zu nennende Gestalt frei.

Schon lange ist er fasziniert von der Reduktion, vom Elementaren. So schuf er vor über 30 Jahren die Serie „Landwaage“. Aufgenommen im recht neuen niederländischen Nordostpolder, der damals noch nicht besiedelt war. Wie man sich auch drehte, die Landschaft war in allen Richtungen gleich. 2/5 Land und 3/5 Himmel. Ein unermesslicher Landschaftsraum, spürbar nur durch feinste Abwechslungen und minimale Unterscheidungen. Dort konnte man ein neuangepflanztes Feld ausmachen, hier ergab sich eine dünne Linie, die bis zum Horizont führte. Auf jenem Bild erkannte man eine dünne Pappelallee. Nichts aber war so stark, dass es die kraftvolle Linie des Horizontes zurückdrängte. „Ich erlebte diese Landschaft ja aus dem Auto“, erzählte Tomas Riehle mir. „Also in Bewegung, im Vorüberfahren. Und nahm die eigene Bewegung als Anlass für eine Aktion, die ich 360° Landschaftskreuz nannte. Ich drehte mich beim Fotografieren um 360° und machte Aufnahmen in alle Himmelsrichtungen und schwenkte dann noch einmal in Form eines vertikalen Kreises, über die Erde in den Himmel hinein. Ganz pragmatisch, ganz konzeptuell.“

Und nun, nach so langer Zeit, war es ihm möglich, mit einem Freund vierzehn Tage nach Japan zu fahren. In das Land, das ihn schon lange fasziniert hatte. Mit seiner traditionellen Architektur, mit seinen klaren, wohlgeordneten, schlichten Räumen und den schön gestalteten Dingen. Mit seiner Tradition von innerer Einkehr, Ruhe und Beschaulichkeit.

„Eigentlich wusste ich ja, dass es ein modernes Japan gibt. Aber erst als ich dort war, merkte ich, wie sehr ich eine Vorstellung gepflegt hatte, der die Wirklichkeit längst davongelaufen ist.“ Berührt und bedrängt war er von der Andersartigkeit. Der Zivilisationsgrad sei höher als hier. Jeder Teil des Landes sei dort genutzt, nichts sich selbst überlassen. Überall landwirtschaftliche Flächen. „Du kannst es nicht vergleichen, obwohl Du ständig vergleichst“, bemerkte er. Nie habe man Ruhe dort. Immer sei man umgeben von Menschen. Menschen wie Ameisen. Egal, wo man hingehe. Nie sei man allein. Dabei sei aber jeder ungemein diszipliniert. Und in sich gekehrt. Abgeschlossen gegen den anderen, den man nicht stören wolle. Rücksichtnahme bis zur Selbstverleugnung. Keiner fiele aus der Form. Alles bleibe anonym. „Manchmal habe ich mir gewünscht, anzuecken“, entfuhr es ihm. „Aber man kann das natürlich auch ganz anders sehen. Ist es nicht bewundernswert, wenn so viele Leute in der Lage sind, ganz bei sich zu sein? Denn es scheint, dass alle etwas Sinnvolles tun, sich beschäftigen. Nur nicht nichts tun. Nur keine Zeit vergeuden. Ich fühlte mich ein wenig an meine protestantische schwäbische Großmutter erinnert. Letztendlich verstand ich es aber nicht. Und werde ihm auch nicht gerecht, fürchte ich.“

Viele Fotos hat er während der Reise gemacht. Viele schöne waren dabei. Sicherlich. Aber doch nur Bruchstücke, nur Lücken. Was Bestand habe, sei aber eine Serie, die er auf der Zugfahrt von Tokyo nach Kyoto aufgenommen habe, aus dem fahrenden Shinkansen heraus. Zehn Bilder, wie die „Landwaage“, auch in 100 x 65 cm Größe. Wie eine Antwort nach 30 Jahren.

Was wir sehen, grenzt an eine Verweigerung des Sichtbaren. Oder das Zuviel des Sichtbaren schlägt um ins Nicht-Mehr-Sichtbare. Erkennen von etwas Dargestelltem wird unmöglich. Stattdessen stehen wir einer informellen Struktur aus farbigen Streifen unterschiedlicher Länge und Breite gegenüber. Eigentlich konkreten Bildern, ohne Bezug zu einer außerbildlichen Realität. Doch der Titel lässt uns ahnen, um was es sich handelt. Wer es weiß, kennt den berühmten Hochgeschwindigkeitszug und kann sich die Bildgenese erklären. Oder sich dem Bildrauschen überlassen. Vielleicht kehrt ja in der Überfülle wieder Ruhe ein. Wenn alle Bewegungen sich gegenseitig auflösen.

Tomas Riehle setzt in dieser Ausstellung noch einen Gegenakzent mit Werken aus seiner Serie „Concrete“, der englischen Bezeichnung für Beton. Ein Titelgebung mit Doppelsinn. Einerseits sind es fotografische Detailansichten aus Betongebäuden, andererseits aber auch Bilder, die sich durchaus als konkret verstehen lassen. Als eigenständige Bildkompositionen.

Angebote genug also für Sie als Betrachter, unsichtbare Verbindungslinien zwischen den hier ausgestellten Werken zu finden, denen eines japanischen Künstlers in Deutschland und eines deutschen Künstlers auf Besuch in Japan.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen ... und gute Sitzerfahrungen!

Katshuhito Nikishikawa – Möbel
Tomas Riehle – Fotografien

Design-Post,Köln-Deutz
10.11.2011

Rüdiger Mönnikes

Hommage an den Kreis – Form in vielerlei Existenz
Ein Besuch bei Rüdiger Mönnikes in Köln

„Ich glaube, ich habe zuviel Öffnungen hineingeschnitten. Es sind kaum noch großzügige Wandflächen übriggeblieben“, ruft mir Rüdiger Mönnikes von der Küche aus zu, wo er an der Kaffeemaschine hantiert. „Ich bin ja noch nicht lange hier, bin noch nicht fertig mit meinen Umbauten.“

Ich sitze im gemütlichen Sessel in seiner Kölner Altbauwohnung und habe wirklich einen guten Überblick in alle umliegenden Zimmer und nach draußen. Öffnungen überall, Durchbrüche auf ein Dahinter und Daneben. Keine Wand ist ohne Spuren geblieben. Und Öffnungen auch auf vielen Bildern an den verbleibenden Wänden, hier im Raum oder nebenan. Und überall Kreise. Und ihre Verwandten, die Ovale. In Bewegung gesetzt von einer Bildkomposition von Schrägen. Über Bildränder ragend ins „Off“. „Aha“, denke ich: „Keine 'Hommage to the square', sondern 'Hommage to the circle'“.

„In Neuss fing alles an“, nimmt Rüdiger Mönnikes die Unterhaltung wieder auf. „Mitten in der Stadt, auf dem Büchel, nicht weit vom Rathaus, habe ich Uhrmacher gelernt. Bei Blömacher. Aber die gibt es schon lange nicht mehr. Es war kein Traumberuf für mich. Lieber wäre ich nach der Schule Goldschmied geworden. Aber die Lehrstellen waren rar und mein Vater hatte Verbindungen. Er selbst war Uhrmachermeister. Und ist dann Gewerbeschullehrer geworden. Schließlich war er als Studiendirektor zuständig für die Ausbildung von Uhrmachern in ganz NRW. War eben Lehrer, wie schon sein Vater. Und auch seine Geschwister. Ein Weg für mich war es aber nicht. ... Die Lehre war spannend für mich, aber nicht das, was ich mir wünschte. Künstler wollte ich werden. Nichts anderes. ... „ tönt es aus der Küche mit Vehemenz. „So kompliziert wie manche sie sehen, sind Uhren aber nicht. Bestehen aus ein paar Zahnrädern. Und verschiedenen Formen von Hemmungen. Den heutigen „Hype“ um mechanische Uhren kann ich gar nicht verstehen. Einfach nicht nachvollziehen. Als wenn das etwas besonderes wäre. Dazu sind sie alle auch noch ungenau!“

Der Begriff „Mechanik“ kommt mir in den Sinn. Das Uhrwerk als Weltenmechanik. Die Uhr als Herz der Zeit, die das Leben im Takt vorantreibt. Die Maschine als der Motor des Neuen, des Fortschritts, der Befreiung von den Bindungen an die Wechselfälle der Natur. Und ich beginne, mit dem Begriff zu spielen. „Bildmechanik“ fällt mir ein. Die unterschiedlichen Formmotive auf den Hinterglas-, eigentlich besser Hinter-Plexiglas-Bildern, von Rüdiger Mönnikes greifen ineinander wie ein Uhrwerk. Treiben das Bildleben an, lassen es permanent in Bewegung sein. Gerade beschäftige ich mich mit dem Bauhaus und seiner Zeit. Wie hat der russische Künstler Tatlin seine Kunst damals genannt? „Maschinenkunst“. Und viele Künstler wollten damals eher Ingenieure des Bildgeschehens als Salonmaler sein.

Der Kaffee kommt. Und Schmalzgebackenes dazu. Ich bin glücklich und genieße. Und möchte mehr wissen über die Bildgenese bei Rüdiger Mönnikes. Wie entstehen die Werke, frage ich den Maler. „Mit Schablonen“, erfahre ich. „Ich schneide Schablonen von Kreisen und Ovalen, auch von Rechtecken, und verwende diese für die Umrisslinien der Formmotive, für Kurvaturen usw.“, fährt er fort. „Habe ich den Eindruck, dass die Schablonen zu groß sind, oder zu klein, dann schneide ich neue. Manchmal gibt es auch ganze Familien solcher Formen, in unterschiedlichen Größen. Aber sie sind miteinander verwandt. So antworten die Umrisse aufeinander. In Dialogen. Als Resonanzen oder Widersprüche.“

Ich erzähle, dass mir das Öffnen der Bildfläche gut gefällt, die vielfältigen Überschneidungen der Motive durch den Rand. Oder dass das Gezeigte um den Rand weitergeht, an den Seitenflächen des Bildblockes hinab bis zur Wand. „Ja, das interessiert mich sehr“, stimmt mir Rüdiger Mönnikes zu. „Manchmal arbeite ich auch mit mehreren Bildtafeln, die ich in eine Reihe nebeneinander hänge. Es kann vorkommen, dass dann ein Bildmotiv in einem Bildgeviert beginnt und in einem danebenhängenden seine Ergänzung erfährt. Über den Leerraum der dazwischenliegenden Wand hinweg. Ich möchte, dass der Betrachter aktiv wird. Dass er im Sehen das Bild ergänzt, dass es sozusagen einen realen und einen virtuellen, nur in der Vorstellung des Betrachters existierenden Bildteil gibt. Dass er weiterspinnen kann und soll, dass das Bild impulssetzend wirkt.“

Ob er denn immer so gearbeitet habe, frage ich Rüdiger Mönnikes. Ich selbst würde ja nur Bilder mit einem präzisen geometrischen Formvokabular und monochromen Farbflächen kennen. Ohne jede Faktur, ohne erkennbare Pinselstriche bzw. Handschriftlichkeit. „Aber natürlich“, antwortet er spontan. „Ich komme ja aus einer ganz anderen Ecke. Habe in Köln bei Karl Marx studiert. Und der war geradezu ein Art „Malschwein“. Stand in der Tradition des Expressionismus. Wilde, rüde, pastose Farbigkeit. Erst gemalt und dann vermalt hat er. Das einmal auf der Leinwand figurativ Angelegte mit dem folgenden Malakt zerstört, deformiert, mit Farbe und Pinsel gequält. Und immer wieder Sexualität. Geschlechterkampf. Rauf und runter mit der Psychoanalyse. Das hat mich sehr beeinflusst. Nach meiner so sorgfältig betriebenen Uhrmacherlehre. Sexuelle Austreibungen habe ich in und mit der Malerei durchlebt. Und auch Bilder so genannt. Natürlich war es eine Auflehnung. Gegen die Lehre, gegen die Eltern, gegen alles Folgsame, Ordentliche und Kontrollierte, gegen bürgerliche Moralvorstellungen. Ob ich es selbst war, ob dies mein Weg war, kann ich heute nicht mehr entscheiden. Aber ich musste da durch. Wie viele, die bei Marx studiert haben. Und bei manchen hat die ständige Beschäftigung mit Sexualität auch dazu geführt, dass sie ihr eigenes Thema gefunden haben. Jedenfalls befand auch ich mich auf dem Weg des abstrakten Expressionismus. Letztendlich waren wir alle Enkel der Surrealisten. Und Francis Bacon unser Papst. Da gibt es ein bestimmtes Orange und einen Grünton, die typisch für Bacon sind. Fast in jedem Bild von Marx waren sie zu finden. Wie eine Verbeugung vor dem großen Briten, der sich die Auslieferung der Menschen an ihre Triebe und Affekte zu einem stets wiederkehrenden Thema machte.“

„Nach dem Studium“, setzt Rüdiger Mönnikes nach einer Pause wieder ein, “entdeckte ich aber andere Orientierungspunkte für mich. Weniger expressive. Die meinem Temperament eher entsprachen. Die lyrischer waren, weniger vehement im Ausdruck. Mehr vermittelt als unmittelbar. Cy Twombly mit seinen skripturalen Notationen wurde mein „Gott“, wenn ich das so sagen darf. Sein Farbauftrag berührte mich. Er schien in höchstem Maße ungesteuert, jenseits jeder Willkür. Ich habe mich dann abgewandt vom Leinwandbild und Gips als Malgrund entdeckt. Großflächige Gipstafeln ließen sich mit zarten Nebeln von Farbe bemalen, die vom Gips aufgesaugt wurden. Mit Gespinsten, Schlieren, die sich verdichteten oder wie sich auflösende Reste, Überbleibsel von Gewolltem. Und hineinritzen konnte man in diese Oberfläche, das Weiß des Gipses freilegen. Lineaturen, Graphismen, Notationen. Vieles war erst handschriftlich. Doch mehr und mehr verdichteten sich die Lineaturen zu regelmäßigen Kreisstrukturen, zu herausgeritzten Kreisformen. Eines der Werke dieser Zeit gibt es noch. Ich habe es für die Ausstellung in Osterath wieder hervorgeholt.“

Der Maler greift über den Tisch, nimmt seinem Laptop und zeigt mir Fotografien von einem Modell, an dem er die Ausstellungshängung in der Galerie von Herrn Mönter geplant hat. „Dort, das mit den drei Kreisringen ist es. Das ist auf einer Gipstafel entstanden.“ „Pass' auf“, denke ich bei mir, „versteife dich nicht zu sehr auf die offene Bildform, auf Überschneidungen, Schrägen in der Komposition und Dynamik. Es gibt auch einen anderen Mönnikes. Der mit den Reihungen gleicher Elemente, streng ausgerichtet an Orthogonalität, die genau ins Bildgeviert passen, es haargenau ausfüllen. Oder, anders herum gedacht, wo das Bildgeviert genau um eine nahtlos gefügte Aufreihung gleicher Elemente abgeschlossen wurde.“ An „Rapport“ denke ich, an „Pattern“. Die Übersetzung „Muster“ fällt mir ein, die Wiederholung des Gleichen. Der strenge, mechanische Takt. Aber ist das nicht auch „Maschinenkunst“, wenn ein und dieselbe Formvorlage eine Fläche gleichmäßig wie einen Schnittmusterbogen füllt? Eine Art Stanzvorlage? Und wirklich erkenne ich, als ich mich auf dem Laptop langsam durch die Bilddateien von Rüdiger Mönnikes klicke, Flächenformen auf seinen Bildtafeln, aus denen Formmotive herausgeschnitten sind. „Natürlich“, denke ich, „„negativ“ und „positiv“! Formen können ja in beiderlei Gestalt und Zustand im Bild auftauchen, als anwesend oder fehlend. Mal fest im freien Umraum, mal als Formsilhouette des in einer Fläche freigelegten Hintergrundes. Und“, stelle ich beim Weiterblättern fest, „die Formmotive können auch nur als „outline“, als Umrisslinie, im Bild präsent sein. Form in vielerlei Existenz“, wird mir klar. „Und hier“, sehe ich bei einem weiteren Bild, „schwillt die Umrisslinie an und ab. Denn Rüdiger Mönnikes hat dieselbe Formschablone zweimal genutzt und dabei geringfügig verschoben. So sieht es aus, als ob sich in einer ausgefüllten Formfläche die gleiche Form noch einmal als ausgeschnittene Form befinden würde. Raffiniert! Ein heiteres Spiel mit dem Kreis und seinen Verwandten!“

Über das Plexiglas als Material der Moderne hätten wir noch gar nicht gesprochen, fällt mir ein. „Ja“, entgegnet mir Rüdiger Mönnikes, „für mich ist es ideal. Sie können sich vorstellen, wie empfindlich Gips als Bildträger war. Gott sei Dank gab es selten nur ein Malheur. Dass eine Gipsplatte zerbrach. Das kann mir bei Plexi nicht passieren. Nur dort erreiche ich solch' homogen wirkende Farbflächen. Bei Glas ist das anders. Und solche Ebenmäßigkeit des Farbauftrages ist mir nun einmal wichtig.“ Mir fällt wieder die Bauhauszeit ein. Ich denke laut nach und erinnere mich, dass damals Plexiglas für modernes Leben, für Transparenz und Immaterialität, für reine Energie stand. „Ja, László Moholy-Nagy hat es doch gerne verwendet“, fällt Rüdiger Mönnikes ein. „Er hat es sogar erwärmt und zu organischen Gebilden verformt.“ Und ich denke an die Plexiglas-Skulpturen, besser -Montagen des russischen Konstruktivisten Naum Gabo. „Eigentlich“, so kommt mir in den Sinn, „sind die Werke von Rüdiger Mönnikes eine Art konstruktivistische Malerei.“

„Was es damals aber noch nicht gab“, unterbricht der Maler meine Gedanken, „und mich besonders fasziniert, ist das fluoreszierend durchgefärbte Plexiglas. Damit arbeite ich besonders gerne“, und er zeigt auf eine Formfigur, die auf einem Sockel nahe dem Fenster steht. Die Flächenformen sind geradezu aufgeladen mit farbigem Licht. „Vor allem gibt es farbige Schatten“, fährt er fort, „An denen kann ich mich nicht sattsehen.“

Dabei fällt mir eine große silhouettierte Plexiglasplatte auf, die senkrecht an der gegenüberliegenden Wand lehnt. Entfernt ähnelt sie einem Kurvenlineal, einer Aneinanderreihung und Ineinanderfügung all der Schablonenformen, die Rüdiger Mönnikes nutzt, um Formmotive für seine Bildflächen zu bestimmen. „Klar“, denke ich, „ein logischer Schritt. Warum nicht die Formmotive, die Figuren vom Grund lösen, damit sie sich verselbständigen. Warum nicht auf den Träger verzichten und das Getragene in den Mittelpunkt rücken.“

Ich lasse mir die Toilette zeigen. Sie befindet sich in einem intelligent in die Altbauwohnung hineingebauten, völlig neugestalteten Bad ohne Decke. „Mache ich alles selbst“, erzählt mir der Künstler, als ich zurückkehre. „Es fehlt noch das Dach aus Plexiglas. Damit Tageslicht hineinkommt. Wichtig für einen Raum ohne Fenster.“ ... Er hatte mich ja gewarnt, das es noch ein Provisorium wäre.

„Doch!“, denke ich, „Alles passt zusammen! Die Uhrmacherlehre, der geschickte Planer und Handwerker in der Altbauwohnung und die klar umrissene, spielerisch einfallsreiche, aber präzise Bildwelt sachlicher Formen, die an Ingenieurplanungen denken lassen“, und genieße meinen zweiten Kaffee.

Rüdiger Mönnikes zeigt mir den Entwurf der Einladungskarte. Zum ersten Mal lese ich den Titel der Ausstellung. Wir ulken ein wenig über „Schwarzmalerei“, weil der Maler gerade ein düsteres Bild einer vom ungehemmten Medienkonsum verdummten Welt gezeichnet hatte. Ich frage nach dem bildnerischen Sinn des Titels. „Klar“, antwortet er mir, „ich weiß, „Schwarzmalerei“ könnte auch gedeutet werden, als wenn ich jetzt ganz graphisch arbeiten würde. Nichts läge mir ferner. Ich empfinde mich nach wie vor als Maler. Und für den ist Schwarz eine wunderbare Farbe mit einem breiten Bedeutungsspektrum und vielfältigen Ausdrucksqualitäten. Denken Sie an die Werke von Ellsworth Kelly oder gar Pierre Soulages. Wenn man wissen will, was Schwarz sein kann, so sollte man sich seine Bilder ansehen.“ „Ja“, sehe ich ein, „er hat Recht. Ich kann mich noch gut an die Glasfenster von Soulages in der alten Kathedrale von Conques in der Auvergne erinnern. Alle 110 Fenster nur in Schwarz. Aber was für eine feine Nuancierung! Welche Bewegung des Geistes, die spürbar wird. Was für eine meditative Qualität!“ „Sie werden sehen“, unterbricht Rüdiger Mönnikes mein schwelgerisches Nachsinnen. „Es wird eine komplexe Malerei aus Schwarz sein! Das Modell kann davon nur wenig erzählen!“

Damit schließen wir unser lebendiges Gespräch. Ich packe meine sieben Sachen, verabschiede mich und kehre durch die kalte, schwarze Nacht und beleuchtete Kölner Straßen zum Bahnhof zurück. ... und lasse Sie jetzt mit ihren Gedanken, Beobachtungen und Gesprächen allein, bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns allen noch einen schönen gemeinsamen Abend.

Rüdiger Mönnikes – Schwarzmalerei
Buch- und Kunstkabinett Konrad Mönter,
Meerbusch-Osterath,
2.3.2011